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Writer's pictureJames M. Dorsey

»Die Ultras hatten eine Schlüsselrolle« (Interview JMD Suedwind)

Aus: Südwind – Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung (Nr. 5, 2013)


»Die Ultras hatten eine Schlüsselrolle«


James M. Dorsey ist ein profunder Kenner der arabischen Fußballfankultur. Reinhard Krennhuber sprach mit ihm über die Tragödie von Port Said und die Rolle der ägyptischen Ultras beim Sturz Hosni Mubaraks.


Südwind-Magazin: Als der Aufstand in Ägypten 2011 begonnen hat, waren viele Leute überrascht, dass Fußballfans an vorderster Linie dabei waren. Wie kam es dazu?


James M. Dorsey: In den autokratisch geführten Staaten Nordafrikas war die Freiheit im öffentlichen Raum sehr beschränkt. Die einzigen Orte, an denen sich Leute frei bewegen konnten, waren die Moschee und das Fußballstadion. Schon vor dem Ausbruch der Revolution ist es regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen Ultras und Sicherheitskräften gekommen. Mit dem Effekt, dass sich hoch organisierte, im Straßenkampf erfahrene

Gruppen herausgebildet haben. Die Ultras haben eine Schlüsselrolle bei der Überwindung der »Barrikade der Angst« gespielt. Sie waren jene, die am Tahrir-Platz in der erste Reihe gestanden sind. Und sie sind geblieben, wenn alle anderen die Flucht ergriffen haben. Im November 2011 gab es eine Demonstration, an der sie nicht teilgenommen haben. Als absehbar wurde, dass es zu einem Polizeieinsatz kommt, haben die Leute die Ultras um Hilfe gerufen.



Wie würden sie die Ultra-Gruppen politisch einordnen?


Im Jänner 2011 verkündeten rivalisierende ägyptische Ultra-Fangruppen Erklärungen, in denen es sinngemäß geheißen hat: Wir sind keine politischen Organisationen, aber unseren Mitgliedern steht es frei, sich an den Protesten gegen das Regime von Hosni Mubarak zu beteiligen. Wenn man privat mit ihren Anführern gesprochen hat, haben sie gesagt: »Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, auf den wir gewartet haben!« Die miteinander rivalisierenden Gruppen haben eines gemein: den tief verwurzelten Hass gegenüber dem Sicherheitsapparat. Ihre Anziehungskraft auf desillusionierte Jugendliche ist enorm. Wir sprechen von der zweit- oder drittgrößten Bürgerbewegung Ägyptens mit zehntausenden Mitgliedern.



Ein Schlüsselmoment war die Stadionkatastrophe von Port Said, bei der im Februar 2012 mehr als 70 Fans des Klubs Al-Ahly Kairo getötet wurden. Wie konnte es dazu kommen?


Nach dem, was bekannt ist, können wir davon ausgehen, dass das (die Übergriffe auf Al-Ahly-Ultras vor den Augen von tatenlosen Exekutivbeamten, Anm.) keine spontanen Handlungen waren. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass es so nicht geplant war. Zu dieser Zeit war Ägypten am Scheideweg. Mubarak war gestürzt, aber es ist nichts weitergegangen. Die Leute haben sich nach Normalität gesehnt – und Straßenkämpfe waren

dem nicht zuträglich. Die damalige Militärregierung und die Sicherheitskräfte sahen den Tag gekommen, den aufsässigen Ultras eine Lektion zu erteilen. Aber es ist völlig außer Kontrolle geraten.



Das Gerichtsverfahren hat mit 21 Todesstrafen für Ultras aus Port Said geendet, es wurden aber nur zwei Polizisten verurteilt. Was war Ihr Eindruck von dem Verfahren?


Für Präsident Mohammed Mursi war es eine „No-Win“-Situation: Es war klar, dass eine Seite verlieren muss, und das hat die Situation für die Richter, die politischem Druck ausgesetzt waren, sehr schwierig gemacht. Die 21 Todesurteile sind sehr hart. Die haben das Misstrauen der Bevölkerung in die Regierung noch weiter verstärkt, wie man an den folgenden Unruhen gesehen hat. Die Fans aus Port Said und Kairo sind sich einig, dass

diejenigen, die eigentlich dafür verantwortlich waren, nicht verurteilt worden sind. Wenn man sich das Ausmaß der Tragödie anschaut, ist es unverständlich, dass nur zwei Polizisten zur Rechenschaft gezogen wurden.



Wie sind die Ultra-Gruppen organisiert?


Sie nutzen alle Formen der modernen Kommunikation: Facebook, Twitter, Blogs. Der Gründungsvater der ägyptischen Ultras ist ein Journalist, der mit neuen Medien sehr gut umzugehen weiß. In der Führungsebene gibt es ein sehr starkes politisches Bewusstsein. Ich würde ägyptische Ultras nicht als Hooligans bezeichnen. Denn im Gegensatz zu europäischen Fußballfans hatten und haben sie es mit einem Staatsapparat zu tun, der von sich aus Gewalt ausübt, ohne dass er herausgefordert wird. Die Option des weitgehend friedlichen Widerstands hat nie wirklich existiert.



Eine der zentralen Forderungen der Ultras ist eine Radikalreform des Sicherheitssektors. Besteht da Aussicht auf Erfolg?


Dieses Anliegen teilen die Ultras mit vielen in der Bevölkerung. Der Streik von Sicherheitskräften im März hat gezeigt, dass es reformwillige Strömungen gibt. Aber Mursi müsste die Polizei völlig umkrempeln – und das kann nicht über Nacht geschehen. Wie bei der Justizreform werden ihn auch hier viele Widerstände erwarten. Die Sicherheitslage ist unter Mursi eher schlechter geworden. Seine Antworten darauf folgen der Law-and-Order-Methode. So lange das so bleibt, wird Ägypten nicht zur Normalität zurückfinden.



Die ägyptische Fußball-Profiliga wurde im Februar wieder aufgenommen. Unter welchen Umständen?


Die Spiele finden vor leeren Rängen statt. Einzige Ausnahme war ein WM-Qualifikationsspiel der ägyptischen Fußballnationalmannschaft Ende März, zu dem 10.000 Fans zugelassen wurden. Natürlich fordern die Ultras eine Öffnung der Stadien. So weit ist es aber noch nicht. Denn das ist eine Sicherheitsfrage, und die Polizei will Konflikten aus dem Weg gehen.



Wie groß ist der Einfluss der Fußballfans auf die postrevolutionären Prozesse?


Der einzige Weg, sich von dem Regime in Ägypten zu befreien, war eine Politik der Straße. Nach dem Sturz von Mubarak war entscheidend, ob sich seine Gegnerinnen und Gegner an den demokratischen Prozessen beteiligen. Für Fußballfans stellt sich diese Frage nur bedingt, weil sie keine Partei gründen werden. Die Ultras wissen: Wenn sie die Straßen verlassen, werden sie sie nur schwer wieder zurückerkämpfen können. Zum jetzigen Zeitpunkt werden sie das nicht tun. Auch weil sie die Macht zu schätzen gelernt haben, die damit verbunden ist.




Zur Person: James M. Dorsey (61) war ab den 1970er Jahren für diverse Medien als Nahostkorrespondent tätig und wurde zwei Mal für den Pulitzer-Preis nominiert. Aktuell ist er Senior Fellow am Institut für Internationale Studien der Nayang Universität in Singapur und iCo-Direktor am Institut für Fankultur in Duisburg. Zudem betreibt er den Blog „The Turbulent World of Middle East Soccer“ (http://mideastsoccer.blogspot.co.at).


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